Jens Spahn MdB: DAS RICHTIGE TUN Vielen geht es wohl ähnlich wie mir: Wir stehen mitten im Leben. Und an etwas anderes mögen wir gar nicht denken. Wer setzt sich schon gerne mit der eigenen Vergänglichkeit auseinander? Das ist menschlich und völlig in Ordnung. Es ist aber auch ein Geschenk, so denken zu können. Unsere schwer kranken Mitmenschen können das nicht. 10.000 Men- schen warten in Deutschland auf ein lebensrettendes Organ. Jeden Tag sterben Menschen, die vergeblich ge- wartet haben. Deutschland ist Spen- den-Schlusslicht in Europa. Dabei kann sich die große Mehrheit der Deutschen grundsätzlich vorstellen, Organspender zu sein. Doch zahlreiche Versuche, die Spendenzahlen zu erhöhen, haben nicht den nötigen Fortschritt gebracht. Das ist der Hintergrund, vor dem wir derzeit im Bundestag und in der Gesell- schaft über eine Verbesserung bei der Organspende debattieren. Dabei ist klar: Wie wir die Organspende gesetzlich re- geln, berührt heikelste Punkte. Es geht um Leben und Sterben, das Selbstbestim- mungsrecht und die Verfügung über den eigenen Körper. Aber auch um das Leben und die Gesundheit der Mitmenschen. Jedem Standpunkt und jedem Vorschlag gebührt dabei der gleiche Respekt. In dieser Frage zu entscheiden, ist eine Gewissensfrage. Deshalb stimmen wir darüber im Bundestag nicht nach Par- tei- und Fraktionszugehörigkeit ab. Im Gegenteil, es liegen zwei Vorschläge vor, die jeweils von Abgeordneten mehrerer Parteien gemacht worden sind. Dass wir eine offene Debatte auf hohem Niveau führen, ist bereits ein Wert an sich. Noch wichtiger ist, dass wir am Ende eine Ent- scheidung treffen, die eine echte Verbes- serung ist. Georg Nüßlein (CSU), Karl Lauterbach (SPD), Petra Sitte (Linke) und ich wollen 40 PVS einblick die doppelte Widerspruchslösung einfüh- ren. Der Kern dieses Vorschlags ist: Alle volljährigen Bürger gelten als potenziel- le Organspender. Sie werden dreimal an- geschrieben und auf die neue Rechtslage hingewiesen. Sie können jederzeit wider- sprechen. Falls das nicht zu Lebzeiten passiert, werden die Angehörigen nach dem Willen des Verstorbenen gefragt. Einen Automatismus wird es also nicht geben. Die Organspende bleibt eine freie und persönliche Entscheidung. Das ein- zige Recht, das so beschnitten würde, wä- re das, sich keine Gedanken zu machen. Viele andere europäische Länder, al- len voran Spanien, haben mit der Wi- derspruchslösung gute Erfahrungen gemacht. Ein Grund ist, dass sich die ge- sellschaftliche Haltung verändert hat, hin zu einem Geben und Nehmen. Jeder Bür- ger kann erwarten, eine Transplantation zu erhalten und ist im Gegenzug bereit, auch eine Spende zu leisten. Die Organ- spende wird als solidarische Aufgabe der Gemeinschaft zum Nutzen aller verstan- den. Eine solche Haltung wollen wir auch in Deutschland fördern. Von der Soli- darität, Leben zu schenken, wird unsere ganze Gesellschaft profitieren. Denn je- der von uns könnte irgendwann auf eine Organspende angewiesen sein. Das Ziel unseres Vorschlags ist deshalb, dafür zu sorgen, dass sich jede und je- der einmal im Leben zur Organspende verhält. Angesichts der Bedeutung die- ser Frage für Leben und Tod, halten wir das auch in einer freien Gesellschaft für zumutbar. Es wäre der entscheidende Unterschied zu allen bisherigen Versu- chen: Sie haben stets auf der Hoffnung gefußt, dass sich die Bürger von selbst mit der Organspende befassen. Dass sie aktiv entscheiden, Spender zu sein. Auch die Alternative zu unserem Vorschlag, die Entscheidungslösung, setzt darauf, dass Ansprache, Aufklärung und Information reichen werden. Doch genau das hat bis- lang nicht ausreichend funktioniert. Was menschlich vollkommen verständlich ist, aber was uns nicht weiterhilft. Aus dieser Sackgasse möchten wir raus. Oft werde ich dabei gefragt: Darf der Staat sich erlauben, die Bürger zu einer Entscheidung zu verpflichten? Ist das nicht ein zu großer Eingriff in die Frei- heit der Menschen? Ich habe für solche Überlegungen große Sympathie und ha- be selbst einmal so argumentiert. Doch an Freiheit zu denken, heißt auch, beide Seiten der Medaille zu sehen. Ist die Frei- heit der Bürger, die auf eine lebensret- tende Spende warten, nicht am stärksten bedroht? Kann mündigen Bürgern an- gesichts dessen nicht zugemutet werden, sich zur Organspende zu verhalten? Das Jahr 2017 war für mich diesbezüg- lich ein Schlüsselmoment. Trotz zahlrei- cher Kampagnen und Information, sind die Spendenzahlen auf einen Tiefstand gesunken. Dass sich das unter den der- zeitigen Bedingungen ändern könnte, ist nicht in Sicht. Es ist deshalb an der Zeit, etwas grundsätzlich zu ändern. Auch künftig wird niemand jemals zur Organ- spende gezwungen. Aber wir verpflichten alle, sich damit auseinanderzusetzen. Das haben die Menschen auf den Wartelisten • verdient.